Levi hätte es besser wissen müssen, als ihm seine Eitelkeit zum Verhängnis wurde. Nun musste es schnell gehen. Wenn der Nachtwächter die Magistrale erreichte, bevor er ihm den Garaus machte, war die Fete zu Ende, bevor sie begann. Ein Fehler war nicht umkehrbar, doch diesen konnte er noch geradebiegen. Er ergriff den Jungen, bevor er den Schein der Laterne erreichte. Eine Hand, um ihm den Mund zu stopfen, die andere, um den Dolch zu führen. Ein kurzer Schnitt, ein Zucken und es war passé.
Er sah in beide Richtungen, um sicherzugehen, bevor er die Klinge an seinem Opfer abwischte und unter seinem Mantel verschwinden ließ. Schöne Klingen hatten es ihm schon immer angetan. Doch ein Messer blieb ein Messer, ob mit Ornamenten verziert oder als blanker Stahl; sein Fauxpas erinnerte ihn daran, dass sich Messer nicht als Kleinod eigneten. Er hätte es nicht offen tragen dürfen.–
Ramsey erreichte den Ort des Geschehens. Der Kumpan atmete schwerfällig, als er die Hände auf die Knie stützte. »Das war knapp! Beinahe wäre er uns entwischt.«
Levi wollte seinem Gefährten keine Beachtung schenken. Er war lahm geworden, alt und schwach. Eine Schande, dass es kaum noch echte Männer unter den Banditen gab. Rief man einen Überfall aus, hoben sie flugs die Hände, aber wenn es darum ging, zur Tat zu schreiten, zogen sie gleich den Schwanz ein, wie feige Hunde. Was war nur aus dem Ramsey geworden, den er einst kennengelernt hatte? »Euch vielleicht, alter Mann!«
Der Dieb richtete sich zu voller Größe auf. »Ich habe schon ganze Städte überfallen, da habt Ihr noch in Windeln gelegen, Vierfinger!«
Er hielt inne, als er diesen Ausruf hörte. Levi war sein Name, doch Vierfinger eilte ihm stets voraus. Ein Ruf, den er nicht erkauft und doch geschaffen hatte. ›Gehe im Klang deines Namens!‹ sagte der Aphorismus am Ring seines Fingers.–
Inzwischen hatte sich Ramsey wieder gesammelt. Er stand wie Levi mit den Händen in den Hüften vor dem Toten. »Ihr hättet ihn zumindest nicht töten müssen …«
Doch er zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Er war zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Wie dem auch sei, wir müssen ihn aus dem Weg räumen!« Ramseys Hände zitterten.
Levi nickte. Sie griffen den Toten – einer an den Armen, der andere an den Beinen. Dann trugen sie ihn in die Seitengasse, aus der sie gekommen waren. Der Torso streifte das Pflaster wie das Kratzen einer Bestie.
In der Dunkelheit führte eine Treppe hinab zu einem verriegelten Schott. Es war stockfinster und der Geruch von Fäulnis und Fäkalien lag in der Luft – ein guter Ort, um eine Leiche zu entsorgen. Sollten sich die Ratten um ihn kümmern!
»Hier!«, sagte Levi. Sie ließen ab. Levi stemmte die Fäuste in die Hüften und atmete durch. Sein Blick streifte die Fassaden, wanderte hoch zu den Ziegeln. Eine gemauerte Überdachung ragte über die Treppe. In der Nähe tropfte eine Regenrinne. Schmieriges Moos überwucherte das Gemäuer. Die angrenzenden Gebäude schienen Ruinen zu sein; keine Spur von Bewohnern.
»Er war kaum mehr als ein Knabe!«, klagte der Alte von Neuem.
Levi wandte sich um. Obgleich er in der Dunkelheit nicht viel erkennen konnte, war es ihm ein Rätsel, wie jemand eine Leiche länger als nötig ansehen konnte. »Talib war auch nicht viel älter gewesen …«
»Und doch erhielt Lorka seinen gerechten Lohn …«, erwiderte der Alte.
Levi lachte. »Erzählt mir nichts von Gerechtigkeit! Es gibt nur Gold und jene, die so einfältig sind, um dafür zu arbeiten. Nicht mehr lange und ich werde zum meistgesuchten Mann der Stadt!« Er sagte es mit einem Lächeln auf den Lippen. War es der Triumph, dessen Duft er bereits vernahm? Levi sah den Sieg zum Greifen nahe!
Darauf hob sein Begleiter spitz die Finger. »Hört, hört! Wie sprach noch gleich der Prophet, was auf Hochmut folgen mag?«
Er hob den Blick, sah streng in die Augen seines Gegenübers. »Eure Propheten haben bald ohnedies ausgedient«, seufzte Levi, »wenn sich die Stände weiter so zerfleischen wie bisher.«
»Das«, sagte der Alte, »werde ich vielleicht nicht mehr erleben. Doch dort, woher ich komme, zählte seit jeher ein Kodex.«
Levi sah weiterhin in Ramseys tiefschwarze Augen. Da schwenkte er die Hand in einer poetischen Geste. »Und Taelim führte die Shuraner im heiligen Bunde nach Equinoctika, um ihren Schwur zu erfüllen und Equionox der Erste ließ sie erdolchen allesamt im Hinterhalte.« Darauf hielt er einen Moment inne. »Kapitel fünf, Vers dreizehn. – Doch nun sind genug der Worte gewechselt. Benachrichtigt die anderen – Ihr wisst, was zu tun ist!«
Levi wandte sich ab.
Zumindest tat Ramsey, was man ihm auftrug. Dabei war er der Einzige, der ihm die Herrschaft über die Banditen streitig machen konnte. Doch solange er ihn in der Hand hatte, drohte Levi keine Gefahr.–
Ramsey zögerte auf halbem Weg. »Kommt Ihr nicht nach?«
»Ich habe noch was zu erledigen«, sagte Levi. »Geht ohne mich los!« Der andere wollte endgültig aufbrechen, als sich Levi noch einmal über die Schulter wandte und sprach: »Und haltet Euch von der Stadtwache fern!«
Der Alte nickte. »Vit reves salver!«
»Salve dem luce!«, nuschelte er zur Antwort.
Sein Gefährte entschwand wie ein Schatten in der Dunkelheit. Levi blieb zurück. Es waren geflügelte Worte. Wie alles in dieser Stadt war es nur Schall und Rauch. Leben hieß Dienen. – Diene der rechten Sache!
Grotesk! Er diente nur einem Menschen in seinem Leben, und das war er selbst! Dort, wo Intrigen regierten, war Wissen kostbarer als Gold. Es lag eine Kunst darin, Worte zu konservieren, sie vor der Majorität zu verbergen, vor allen anderen zu erfahren und dafür zu töten, wenn es sein musste. Er erinnerte sich noch genau an die Zeit, in der er als Straßenjunge von einer Hand im Mund gelebt hatte. Damals, als es um das nackte Überleben gegangen war.
Er war als Shuraner geboren; einer von vielen, die einem unterdrückten Volk angehörten. Diese Stadt, Equinoctika, die Hauptstadt des Reiches Anthroplicote, hatte nicht immer den Equiranern gehört. Früher, vor langer, langer Zeit, teilten sich die Ureinwohner dieses Land. Delambarten und Shuraner.
Erstere vertrieben sie ins Landesinnere, Zweitere machten sich die Equiraner zunutze. Ihrer Rechte entbehrt, behandelte man sie wie Unkraut zwischen den Pflastern. Wer nicht diente und sein Leben in den Frondienst eines Eroberers stellte, wurde Bandit oder suchte seine Freiheit außerhalb der Städte. Doch wer sein Leben lang nur diente, war hilflos wie ein Kind, wenn er einmal auf sich allein gestellt war. Eine Flucht endete meist mit dem Hungertod.–
Er hob sein Haupt gen Himmel. Kaum hatte die Nacht ihre Hallen geöffnet, thronten schon die ersten Sterne am Firmament. Es waren die besonders großen und hellen, die wie Könige ihre wachsamen Augen auf die Welt warfen. So beschrieb man sie in Geschichten, die man sich am Lagerfeuer erzählte. Hoffnungen. Wünsche. Unerfüllte Träume. Wenn irgendjemand über die Menschheit wachte, so mussten all jene, die im Schatten der Gassen und Prellsteine wandelten, unsichtbare Phantome sein.–
Die Häuser ragten weit in den Himmel mit ihren spitzen Türmen und Gauben. Equinoctika, du wundervolle Pracht, Vermächtnis der Reichen und Satten, falsche Schönheit!
Ein Wind zog auf und löste eine Zeitung aus den Fängen einer Mülltonne. Er hatte das Titelblatt unlängst gelesen.
Kaiser Gallianox ist tot!
Diese Stadt war korrupt. Kaiser kamen, Kaiser gingen, doch die Fragen blieben dieselben. Das Wesen der Gesellschaft war von innen heraus marode. Zu lange schon frönten die Equiraner der Völlerei und Dekadenz. Ein Gebaren, das sich früher oder später rächen musste. Doch die Bedürftigen und Mittellosen traf es stets als Erste.–
Levi blickte zurück ins Hier und Jetzt. Fürwahr! Es war eine Zeit des Umbruchs. Im Guten wie im Schlechten. Die Zeit für Erkenntnis und die Zeit der Verblendung. Die Jahre des Übermaßes und die Jahre der Armut. Eine Epoche des Lichts und eine Epoche der Finsternis. Dem Himmel entgegen oder hinab ins Verderben. Es war an der Zeit! Equinoctika war reif – für ihre Erfüllung!