Im Schutze der Wolken blickte Lucan der Aassar in die Tiefen des Himmels, als ein Freund zu ihm stieß, den Blick betrübt gen Erde gewandt. »Du bist spät, Aarin«, sagte Lucan. »Nimmst du jetzt schon die Züge deiner Erdenmenschen an? Dass ich nicht lache! Du beobachtest sie jetzt schon seit Jahrtausenden tagein, tagaus. Wozu? Um was letztendlich zu finden?«
»Ein Unfall …«, raunte der andere, »hat mich aufgehalten. Es war ein kleines Kind verwickelt.«
»Aber geschieht das nicht jeden Tag?« Als Lucan das sagte, ließ er den Blick von den Sternen gleiten und wandte sich an seinen Freund. »Die Menschen bauen Maschinen, die sie nie zu beherrschen gelernt haben. Sie werden Opfer ihrer eigenen Werke. Seit eh und je …«
»Eine fahrende Mutter … hat das rote Licht nicht gesehen … war in Gedanken verloren. Stell dir vor, Lucan, was geschah, als die Metro kam.«
Lucans Blick senkte sich auf die Niederungen. »Bedauerlich.«
Aarin seufzte, atmete tief ein und ging ein paar Schritte. »Danke, dass du wenigstens das auch so siehst.«
»Nein!« Lucan hob den Finger. »Ich meine bedauerlich, dass du dir nicht eingestehst, dass all diese Ungerechtigkeit auf der Stelle enden kann, wenn der Rat für die Vernichtung der Menschen stimmt.«
Fassungslos von diesen Worten schüttelte Aarin den Kopf. »Du sprichst von Ungerechtigkeit und das Einzige, was dir zur Lösung einfällt, ist einfach alles dem Erdboden gleichzumachen?«
Doch Lucan teilte dieses Entsetzen nicht. Stattdessen senkte sich ein überlegenes Schmunzeln auf seine Lippen. Die Augen blitzten. »Du verschwendest deine Zeit. Der Rat wird über das Schicksal der Menschheit entscheiden. Und du wirst sehen, dass diese Entscheidung gut war.«
Aarin faltete die Hände. »Ich brauche nur noch etwas mehr Zeit, Lucan! Sag dem Rat, dass ich wie vereinbart die Beweise liefern werde!«
Die Lippen gekräuselt wackelte Lucan ungeduldig auf der Stelle. »Komm schon, Aarin!« Er zeigte mit offenen Handflächen nach unten. »Sieh hinab und verstehe! Sie lernen nicht dazu!
Aus ihrer Geschichte sollten sie begreifen, dass ihr Wirken zum Scheitern verurteilt ist. Aber nein! Sie leben nicht nebeneinander, sondern übereinander. Sie wollen ans Ziel, aber im Wettstreit, anstatt im Miteinander. Sie kämpfen für etwas, aber nicht das, wonach es scheint. Sie wollen nicht eingestehen, dass sie ein und dieselben Fehler immer und immer wieder begehen; denn die Formen ändern sich ja, doch unter einer anderen Flagge wird das begangen, was es zu verhindern gilt.
Sie schwärmen von Freiheit im Tun, aber sind gefesselt in ihren Trieben. Wohl können sie tun, was sie wollen, aber nicht wollen, was sie wollen. Sie konstatieren so ihren freien Willen und sind beschmutzt in ihrem Begehren. So sehr, dass sie ihren eigenen Leibern hoffnungslos ausgeliefert sind. Launisch verlangen sie nach dem einen und dann wieder nach dem anderen. Sie tun dies in ihrem alltäglichen Leben wie auch in ihren animalischen Akten der Fleischeslust.
Haben sie einmal ein Ziel, so ist es meist von niederer Qualität. Zumeist für das eigene Ego, den gesellschaftlichen Stand, dem Besitz beziehungsweise ihrer Kaufkraft. Manchmal auch für ihre Familien. Und in diesem Anflug von Aufopferung weitet sich die Selbstsucht vom Individuum doch lediglich auf eine kleinere Gruppe aus.
Sie könnten das Paradiees auf Erden haben, doch schufen sich ihre Hölle selbst.
Königreiche entstehen, gedeihen und wachsen auf Grundlage von Tyrannei. Dann bricht die Völlerei und die Wolllust aus und spätrömische Dekadenz schafft Platz für Faulheit und Pflichtverletzung. Sie werden so fett und eingebildet, dass sie den Zerfall von innen heraus nicht mehr kommen sehen–«
»Aber waren wir das nicht auch?«, unterbrach ihn Aarin.
»Was?«
»Eingebildet und überheblich?«
Lucan rollte mit den Augen und schüttelte dann den Kopf. »Diesen Teil unserer Geschichte haben wir hinter uns gelassen. Vor Milliarden von Jahren. Heute blicken wir mit Abscheu darauf zurück und freuen uns bessere Aassaren geworden zu sein.«
»Das ist dein Fehler, Lucan! Du siehst immer nur hinab. Besuche mich in den Niederungen und lerne zu sehen!«
»Pah! Dass ich diesem Otterngezücht aus gottlosen Trabanten wehrlos ausgeliefert bin? Du glaubst wohl, ich spinne, mich von diesen Gedankenströmen infizieren zu lassen. Mein Geist ist noch klar und frei, nicht so benebelt wie der deine. Hier oben schnuppert man wenigstens noch frische Luft!«
Aarin hatte die Arme verschränkt, trotzte. »Und doch ist derjenige blind, der nur hört und nicht erlebt …«
Lucans Finger schnellte empor. »Du wirst noch dein eigenes Scheitern erleben! Sehr bald schon wirst du deinen idiotischen Plan, die Menschheit zu retten, in Scherben daliegen sehen.«
Und noch immer hielt Aarin die Arme fest verschränkt. »Nun. Dann sei es so!«
»Tor!« Der Frust war Lucan förmlich anzusehen. Nach all der Zeit, wollte er ihn noch immer von der Sinnlosigkeit seiner Mission überzeugen? Was ging ihn es an, womit er seinem Leben Sinn verlieh?
»Waren dir denn die beiden Weltkriege nicht genug? Die Atombomben zu Hiroshima und Nagasaki? Erinnere dich, Aarin, denke an all das Leid und die Toten! Besinne dich an Stalin und die Gulacs, Adolf Hitler, Mao Zedong und die Warlords in Afrika! An die Kriege im Nahen Osten! Du sprichst die älteste Sprache der Menschheit, hast den Bau der chinesischen Mauer und die Schlacht um Azincourt gesehen. Du kennst die wahre Bedeutung um den heiligen Zweck der großen Pyramide, kannst sogar die Sternenuhr der Sphinx lesen. Du hast den Aufstieg und den Fall des römischen Reichs gesehen, du bist Zeitzeuge von der Geschichte um Romulus und Remus. Erinnerst du dich noch an den Dreißigjährigen Krieg und Napoleons Niederlage in Waterloo? Die Rosenkriege und die Schlachten um Bannockburn und Austerlitz, der Aufstieg Ludwigs dem Großen und seinem Untergang durch die Französische Revolution? Nicht zu sprechen von den Gräueltaten der Spanischen Inquisition und dem Vatikan! Seit dem Turm von Babylon – hat sich wirklich etwas zum Guten hin verändert? Im Gegenteil, es ist nur noch schlimmer geworden! Heute ist vielerorts der Schafott verbannt worden und doch würden sie es wieder tun, wenn es die ortsansässigen Verordnungen so vorsähen.«
Aarin, war in Erinnerungen versunken, stand noch immer so da wie vorher. »Ja. Ja und ich erinnere mich auch an die Sonnenverehrung der Inkas, den Drachenreitern auf Atlantis und an die Werke Beethovens und Goethes, Jesus Christus, Buddha und die Samariter, die Werke Leonardos und den Fall der Berliner Mauer. An friedliche Proteste gegen die Obrigkeiten. Ich erinnere mich auch an die kanadische Prärie, die Korallenriffe in Australien, an eine Zeit, in der die Wüste um Gizeh noch grünes Ackerland trug.
Ich frage dich Lucan, erinnerst du dich noch an Sturz durch Raum und Zeit? Wenn du dein Haupt gen Osten wandest, als des Morgens ein silberner Schleier über den Wäldern lag? Wenn die Kronen sich des Taus entledigten? Bäume, deren Wipfel sich auf wundersame Weise bogen, denen niemals eine Axt gedroht hatte? Erinnerst du dich an den Gesang der holden Jungfrauen, wenn sie durch die Blumenwiesen tollten? Gottesfürchtige Menschenkinder, die niemandem sonst, denn dem Grale dienten? Dann kam der Winter und der Schneehase hoppelte munter über’s zugeschneite Feld. Wenn dann die Flüsse vereisten und begehbar wurden. Danach das Knacken im Frühjahr. Sie tauten im neuen Zyklus und züngelten sich in dünnen Rinnsälen von dannen. Im Sommer wuchsen die Bäche zu voller plätschernder Pracht an, wo sie an den Steilklippen in Sturzbächen endeten, deren Wassermassen selbst die stärksten Wurzeln nicht zu trotzen vermochten. Mächtige Naturspektakel. Das wunderbare Werk der Schöpfung. Erinnerst du dich, mein Freund?«
Lucan schüttelte den Kopf. »Alles. Vergangenheit! Deine Inkas von den habgierigen Europäern abgeschlachtet, die hochmütigen Altanter sind den Fluten des Meeres anheimgefallen. Und deine Dichtkunst verhilft der Menschheit auch nicht mehr zur Besinnung.«
Aarin sang und seine Stimme groll wie psalmenhafter Donner durch die Wolkendecke: »Schon ins Land der Pyramiden floh’n die Störche übers Meer, Schwalbenflug ist längst geschieden, auch die Lerche singt nicht mehr …«
Voller Entsetzten winkte Lucan an. »Ich bin es leid geworden, dieses Gespräch immer und immer wieder mit dir zu führen. Wann siehst du’s endlich ein?«
»Leid geworden? – So auch ich, mein Freund, so auch ich.«
»Jetzt hast du noch die Chance umzukehren, bevor du dich auf Ewigkeiten blamierst.«
»Noch habe ich nicht verloren«, sagte Aarin.
Lucan kam näher, hob die Hände. »Sieh dich an! Du hast noch dein ganzes Leben vor dir! Lass es eine kurze Eskapade sein, ein Regentropfen im endlosen Strom der Zeit. Wegen ein paar tausend Jahren ist noch niemand zum Gespött der Aassaren geworden. Doch jetzt lass ab von deinem sinnlosen Streben und sieh der Realität ins Auge!«
»Du weißt genau wie ich, Lucan, dass die Zeit bedeutungslos ist. Allein die Entscheidungen sind, was zählen, was uns letztlich ausmachen …«
Da zeichnete sich eine Zustimmung auf Lucans Lippen ab und der Drang etwas zu ergänzen, bevor Aarin fortfahren konnte.
»Meine Entscheidung steht fest. Ich werde weiter beobachten und dem Rat Bericht erstatten, dass es Gutes in den Menschen gibt, bevor seine hohe Entscheidung fällt.«
Die Zustimmung wich einem enttäuschten Blick. Lucan hob niederschmetternd das Kinn. »Ist das dein letztes Wort, Aarin?«
Dieser stand stramm. »Jawohl!«
In einem tiefen Atemzug ließ Lucan die Worte über seine Lippen kommen. »So sei es!« Darauf wandte er sich ab. »Dann gehab dich wohl, Aarin …, mein alter Freund«, sprach Lucan und er entschwand in die tiefen des Himmels.
Nur Aarin blieb zurück. Er ließ den Blick über die Meere gleiten. Das Wolkenbett verflüchtigte sich und der nächtliche Himmel wich einer dünnen Sichel fürstlichen Morgenrots. Während die nächtliche Stille einem brausenden Gelbton erlag, erloschen auch die hellen Pünktchen auf den Kontinenten. Sie verglühten wie Sternschnuppen am Firmament.
Dort, dachte Aarin. Dorthin, bin ich noch nicht gereist. Und er spürte, wie sein in die Tiefe gestellter Körper erwachend an seinem Geiste zog.
Richard Isenheim (Februar / März 2023)